![]() Die Bilder an der Decke verschmelzen mit dem Rauch des Joints in ihrer linken Hand. Es sind schöne Bilder dabei, voller Farbe, voller Nostalgie aus einer vergangenen, grauen Zeit. Gefühle, denkt sie, Gefühle machen diese Bilder bunt. Gefühle, wie Aufregung vor dem nächsten Treffen. Wie Ungeduld bis zum nächsten Kuss. Wie Sehnsucht nach dem nächsten kurzen Augenblick in Form von einem Lächeln oder Blick zwischen den Zeilen, der nur für sie bestimmt war. Wie diese besondere Form von Naivität, die man nur mit 18 hat, die einem erlaubt, die einzige Sonne im Universum zu sein und in dieser Illusion, in einer Seifenblase von einem JETZT zu schweben. Der gemeinsame Moment des Anstoßens macht das billige Dosenbier weniger bitter und die heimliche Enttäuschung nach dem Zerplatzen der Seifenblase wird von den Farben an der Decke überschattet. Gehört halt dazu, denkt sie und lächelt. Die unbezahlten Rechnungen liegen auf dem Tisch, doch sie gehören nicht in diesen Moment. Dafür ist das Leben gerade zu schön, denkt sie.
Die Wohnzimmertür ist nur angelehnt und das Schnarchen seines Vaters hallt durch die kleine Wohnung. Er setzt leise einen Fuß vor den anderen und schleicht sich in die Küche. Mühsam zieht er an einem Stuhlbein. Er klemmt. Mit all seiner Kraft spannt er die dünnen Arme an und zieht noch einmal. Mit einem lauten Knartschen löst sich der Stuhl unter dem Tisch. Er hält die Luft an und lauscht. Das Schnarchen schläfert in einem gleichmäßigen, langsamen Rhythmus die gesamte Wohnung ein. So schön ruhig, denkt er erleichtert und zieht noch einmal an dem Stuhlbein, bis der Stuhl vor dem Kühlschrank steht. Mühsam klettert er drauf und öffnet die Tür zum nahezu leeren Kühlschrank. Im unteren Fach liegt die angeschnittene Wassermelone. Das Viertel ist so schwer, dass er es kaum halten kann und doch beeilt er sich, es rauszunehmen und zurück in sein Zimmer zu schleichen. Kaum fällt die Tür ins Schloss, hält er inne und horcht. Die Wohnung atmet weiter, sein Vater schläft. Der Junge lächelt und krabbelt auf sein Bett. Happy Birthday, denkt er und freut sich als er seine 15:00 Uhr Sendung auf Kika anmacht. Glücklich beißt er in sein Frühstück und weiß, dass er der glücklichste Junge auf der ganzen Welt ist. Die Wassermelone zerläuft saftig auf seiner Zunge und zieht sein Lächeln, wenn möglich, noch mehr in die Breite. Ja, denkt er, das ist der beste Geburtstag aller Zeiten.
Sein Zimmer war noch genauso wie er es verlassen hatte. Unter der Staubschicht auf seinem Schreibtisch hörte er das eifrige Tippen des gestressten Studenten auf der Tastatur um drei Uhr nachts, der er noch vor sieben Monaten war. Gestresst, weil er noch vier Seiten in 122 Minuten Restzeit bis zur Deadline für seine Hausarbeit schreiben musste. Nach jedem langen Atemzug hatte er auf seine kleine Wanduhr geschielt, um mit Schrecken zu bemerken, dass der Zeiger keine Rücksicht auf seinen Zeitdruck nahm und sich stetig weiterbewegte. Das eilige Brummen eines vorbeifahrenden Motorrads riss ihn aus der Vergangenheit. Zeit, denkt er. Ganz egal, was wir machen, wir haben niemals genug Zeit. Er schmunzelte. Noch ein Jahr. Ein Jahr Zeit. Sein Blick wandert zum Spiegel und er sieht einen blassen 22- Jährigen in Jogginghose. Seine Mütze bedeckt den kahlen Schädel und hätte vor sieben Monaten nicht einmal auf die einst braunen, abstehenden Locken gepasst. Er streicht sich über die ebenso kahle Linie, wo seine Augenbrauen eigentlich hingehörten und für die er in der Schule gehänselt worden war. Sein Schmunzeln wächst zu einem Grinsen und er öffnete das Fenster. Es war warm und die Sonne scheint direkt auf seine Haut. Die Ärzte würden jetzt schimpfen, weil die Chemo seine Haut zu empfindlich für die Sonne gemacht hat. Doch es ist ihm egal. Die Wärme drängt sich durch sein Gesicht direkt in sein Herz. Er lacht. Wie absurd. Wie absurd mein altes Zimmer zu sehen. Studium, Arbeit, Geld, Erwartungen…wie unbedeutend. Selbst vor der Diagnose hatte er keine Zeit. Und obwohl der Zeiger in einem Jahr stehen bleibt, hat er jetzt mehr davon. Mehr Zeit, glücklich zu sein und seinen Kopf aus dem Fenster zu strecken, um Lebenslicht zu tanken. Die Sonne ist so hell, dass ihm Tränen in die Augen treten. Das Leben ist schön, denkt er und starrt weiter ins Licht.
Es tut mir leid, hatte er gesagt. Ich war betrunken. Er hatte noch mehr gesagt, aber das waren die ausschlagenden Sätze für sie gewesen. Du bist fremdgegangen., war ihre Erwiderung gewesen. Sie hatte es im Gefühl gehabt. An dem Abend selbst noch. Noch hatte sie niemandem erzählt, dass es vorbei war. Ihr Handy vibriert und auf dem Sperrbildschirm erscheint die Nachricht ihrer besten Freundin. Wie geht’s dir?, steht da. Sie weiß es nicht. Sie hatte schon geweint, geschrien und seine Sachen vom Balkon geworfen. Doch das hat die Zeit nicht zurückgedreht. Nicht einmal, als sie zur Küchenschere griff und den langen Stufenschnitt in ein Vogelnest verwandelte, drehte die Zeit zurück. Und jetzt sitzt sie auf dem Dach ihres Schlafzimmers, raucht und fühlt gar nichts. Neben ihr landet eine Blaumeise und legt den Kopf schief, um sie anzuschauen. Der Blickkontakt dauert eine Weile und führt dazu, dass der Vogel seinen Kopf zur anderen Seite dreht, um die Situation aus einer anderen Perspektive zu beachten. Als ob er sagen wollen würde, dass es komisch wäre, dass sie auf dem Dach sitzt und die Beine baumeln lässt. „Was weißt du schon? Tiere haben solche Probleme nicht.“ Die Blaumeise plustert ihre dicke Brust auf und schüttelt sich, als ob sie ihr zustimmt. Auf einmal springt sie auf ihren kurzen Beinen in die Regenrinne, in der sich vom gestrigen Tag noch Wasser gesammelt hatte. Sie taucht den Kopf unter und wieder auf, steigt immer wieder aus dem Wasser, nur um wieder hineinzuspringen. Sie lacht. Vielleicht ist das Leben ja doch schön, denkt sie.
Die Gänge des Krankenhauses ziehen sich auch in die Länge, wenn man im Wartebereich sitzt. Auf dem Stuhl neben der Tür sitzt ein Mann mit seinem kleinen Sohn auf dem Arm, auf der anderen Seite von einem Mädchen mit roten Augen, um mit ihrem Marihuana-Parfum möglichst wenig in Berührung zu kommen. Neben ihr am Fenster sitzt ein junger, dünner Mann in Strickmütze ohne Augenbrauen und starrt sehnsüchtig auf die Straße. In der linken Ecke sitzt eine Frau und zeichnet mit Kugelschreiber auf dem Rückblatt ihres Arbeitsvertrages eine Blaumeise, die auf einem herzförmigen Ast sitzt. Sie alle sitzen in ihrer eigenen, schalldichten Seifenblase. Diese zerplatzen auf einen Schlag, als die Tür zum Warteraum aufspringt. „Es ist soweit! Sie hat es geschafft! Es ist ein Junge! Ihr könnt sie nun besuchen!“, ruft die Krankenschwester fröhlich in den vollen Raum, der bis vor zwei Sekunden noch leer schien. Der kleine Junge klatschte in die Hände und sein Vater setzt ihn von seinem Schoß auf den Boden. Aus seiner linken Jackentasche holt er eine Karte heraus. Eine Karte mit einem Blumenmotiv. In geschnörkelter Schrift steht: „Das Leben ist schön.“ Er sieht die Aufschrift erst jetzt und schluckt beschämt den Wodka-Kater von heute morgen hinunter. „Also,“, sagt er. „Alle müssen noch unterschreiben.“ Und das tun sie. Sie alle setzen ihre Namen drunter. Unter das Wunder. „Das Leben ist schön“, denken sie in der Sekunde, in der sie den Kugelschreiber in die Hand nehmen. Und in dem Moment, in dem sie unterschreiben, empfinden sie das auch so. | |
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